Ich werde nicht darüber jammern, wie stiefmütterlich ich meinen Blog und die Webseite behandle, denn das ist schließlich deutlich ersichtlich. Den letzten Blogbeitrag habe ich im Februar geschrieben. Es gab nicht einmal einen Messebericht. Ich habe auch die Freude über eine besondere Auszeichnung der Aidshilfe Sachsen-Anhalt-Nord nicht mit euch geteilt. Und ich werde auch ganz bestimmt nicht darüber sinnieren, weshalb mir die Motivation zum bloggen abhanden gekommen ist. Ich hoffe darauf, dass sich alles von allein wieder einpendeln wird und ich endlich wieder in meinem Autorenleben ankomme.
Den ersten Schritt mache ich mit diesem Post, der mich ganz besonders glücklich macht. Ich habe das erste Buch des Jahres 2019 veröffentlicht! Endlich!!!
Ich freue mich riesig, auch wenn ich mit dieser Geschichte gar nicht gerechnet hatte. Sie hat mich sozusagen hinterrücks überfallen und ich konnte den drei Männern einfach nicht widerstehen. Zuerst bin ich davon ausgegangen, dass die Story ungefähr so lang wird, wie die anderen beiden. Beim Schreiben musste ich jedoch schnell erkennen, dass ich mit der Wortzahl nicht hinkomme. Irgendwie wurde die Geschichte immer größer, sodass sie nun einen Umfang von 62.000 Wörtern hat (das ist mehr als beide Bücher zusammen).
Damit sind nun drei von vier Geschichten der "Alles Liebe"-Reihe geschrieben. Ich hoffe, es dauert nicht wieder zwei Jahre, bis auch die letzten Wörter zu einer Geschichte verarbeitet sind. Allerdings muss ich zugeben, dass ich schon jetzt ziemlich hibbelig auf die letzte Geschichte bin, denn sie wird ziemlich dicht an "Familie inklusive" angelehnt sein. Sozusagen in der Familie bleiben.
Aber bis dahin wird es auf jeden Fall noch ein bisschen dauern.
Hier habe ich den Klappentext für euch:
Franco erhält, dank eines kleinen Unfalls, die Chance sich von den Zwängen seines strengen Vaters zu befreien. Er landet auf der Straße, wo er Lino und Nick begegnet. Niemals hätte er damit gerechnet, dass das Leben gleich zwei Männer für ihn bereithält. Sowohl Franco, als auch Lino und Nick verbergen die Geheimnisse ihrer Vergangenheit, bis ein unerwartetes Ereignis sie dazu bringt, ihr Leben zu überdenken und Entscheidungen zu treffen. Die Straße bietet keine Zukunft für sie, Franco jedoch schon. Die Frage ist, ob seine Männer bereit sind, mit ihm zu gehen. Hält eine Liebe, die zwischen Abrisshäusern, Straßenstrich und Betteln entstanden ist, auch in einer komplett anderen Umgebung?
Und hier habe ich noch eine kleine Leseprobe für euch:
1. Wo ist Lino?
„Wann hast du Smarties das letzte Mal gesehen?“
Erschrocken schaue ich von meinem Buch auf. Im Türrahmen zum Balkon, auf dem ich sitze, lehnt Nick und sieht mich sorgenvoll an. Ich brauche einen Moment, um seine Frage zu verstehen und einen
weiteren, um darüber nachzudenken.
„Heute Nacht war er nicht da, oder? “, erwidere ich gedankenversunken. „Gestern Abend ... oder nein, am späten Nachmittag war er kurz da, ist aber gleich wieder abgehauen. Was ist los,
Nick?“
„Fuck“, ruft er und verschränkt die Arme vor der Brust. „Er ist weg. Wir müssen ihn suchen.“
„Jetzt bleib mal ruhig. Es ist nicht das erste Mal, dass Lino ein paar Tage abtaucht. Wer weiß, vielleicht hat er einen netten Freier gefunden, der ihn ein bisschen durchfüttert.“ Ich zwinkere
ihm zu, aber Nick schnauft nur unwirsch.
„Netter Freier? Wann ist ihm so was denn zum letzten Mal passiert? Alles, woran ich mich erinnern kann, sind blaue Flecke, eine geschwollene Wange und dann war da noch dieser Kerl, der ihm so
heftig in die Eier getreten hat ... Du weiß genau, dass Lino immer mit den falschen Typen ohne nachzudenken mitgeht. Außerdem hat er uns versprochen, dass er so etwas nicht mehr tut.“
„Aber er taucht wieder auf und dann kümmern wir uns um ihn.“ Auch wenn meine Worte ruhig klingen, fühle ich mich längst nicht mehr so. Nick hat Recht. Lino kann nicht auf sich aufpassen. Egal,
wie sehr wir auf ihn einreden, er gerät immer wieder in solche furchtbaren Situationen. Außerdem waren wir uns einig, dass wir diese Sache zwischen uns ernster nehmen, dass sie für uns mehr
Bedeutung hat, als wir am Anfang dachten.
„Was schlägst du vor?“, frage ich leise und versuche, die Anspannung in meiner Stimme zu unterdrücken. Wir können nicht beide panisch werden. Einer muss die Kontrolle behalten. Ich bin immer noch
verdammt gut darin, meine Gefühle vor anderen zu verschließen. Das habe ich schließlich jahrelang gelernt, auch wenn die beiden längst riesige Löcher in meine Mauern gestoßen haben.
Langsam erhebe ich mich und sehe Nick abwartend an. Seine Rastazöpfe hat er zu einem lockeren Zopf zusammengebunden. Das Tanktop betont seine definierten Arme und die Brust. Es ist neu. Ebenso
wie die Shorts, die er trägt. Vermutlich hat er mal wieder einen Kleidercontainer geplündert. Ich sollte mir auch mal wieder neue Klamotten besorgen. Das Shirt habe ich bereits seit mehr als
einer Woche an. Bei dieser Hitze ist das keine wirklich gute Idee, auch wenn ich mich kaum bewege.
„Als erstes solltest du von diesem elenden Balkon kommen und dann machen wir uns auf die Suche.“
„Was hast du nur gegen den Balkon?“, frage ich amüsiert. „Ich liebe den Platz hier draußen.“
Mehr als ein grimmiges Schnaufen bekomme ich nicht als Antwort. Allerdings ist es auch nicht nötig, denn ich kenne Nicks Vorbehalte. Es ist nur witzig, dass ihn der Rest des Hauses nicht so
stört, wie der kleine Balkon. Wir leben seit mehr als einem halben Jahr in diesem Abrisshaus. Die Treppenstufen sind löchrig. Wenn man nicht aufpasst, kann man problemlos bis in den Keller
fallen. Die meisten Wände sind bedeckt von Schimmel, es riecht muffig, ist kalt und stinkt, weil ein paar Idioten die Toiletten benutzt haben, obwohl sie längst nicht mehr angeschlossen
sind.
Der Balkon ist nicht gefährlicher als der Rest des Hauses und trotzdem weigert sich Nick, auch nur einen Fuß darauf zu setzen. Dabei ist es für mich der schönste Platz. Man kann über die Stadt
schauen, die Sonne beim Untergehen beobachten und die frische Luft ist, in Anbetracht der furchtbaren Gerüche im Inneren des Hauses, auch nicht zu verachten.
„Komm jetzt. Ich mache mir wirklich sorgen. Er war schon seit ein paar Tagen so seltsam.“
„Glaubst du, er hat wieder von irgendjemand Drogen bekommen?“, frage ich alarmiert.
Lino ist einfach furchtbar naiv. Obwohl er behauptet, 22 zu sein, befürchte ich, dass er kaum volljährig ist. Er erzählt nichts darüber, woher er kommt und wie er auf der Straße gelandet ist. Das
macht schließlich niemand. Wir alle haben unser altes Leben zurückgelassen und wollen verdrängen, wer oder was wir einmal waren. Nur das Jetzt zählt. Jeden Tag leben und überleben. Eine Zukunft
spielt keine Rolle, die Vergangenheit ist nicht mehr als ein dunkles Loch, das jeder so gut es geht verdeckt. Nur der Moment zählt. Und trotzdem haben wir uns gefunden und entdeckt, dass uns mehr
als der Überlebenswille zusammenhält.
Ich weiß nicht, ob das, was ich für die beiden empfinde, echt ist, oder nur in einer Umgebung wie dieser Bestand hat, aber ich habe mich noch nie so geliebt und frei gefühlt. Hätte mir vor zehn
Monaten jemand gesagt, dass ich so leben würde, hätte ich gelacht. Nein, mein Dasein war durchgeplant, perfekt strukturiert und so fremdbestimmt, dass ich keine Luft mehr bekam.
„Was ist jetzt, Franco?“
Irritiert schrecke ich aus meinen Gedanken auf. Wenn Nick meinen Namen ausspricht, anstatt mich Wörterbuch zu nennen, ist es ihm wirklich ernst. In diesem Moment rutscht mir das Herz
sprichwörtlich in die Hose. Was, wenn Lino tatsächlich etwas passiert ist?
„Okay, suchen wir ihn“, rufe ich eilig und komme zurück ins Haus. „Was ist mit unseren Sachen?“
„Wir haben keine Zeit, um alles mitzunehmen“, grummelt Nick und steckt einen der Rastazöpfe, der ihm ins Gesicht gefallen ist, hinters Ohr.
„Wenn wir sie hierlassen, wird vermutlich die Hälfte fehlen“, werfe ich nachdenklich ein.
„Aber es geht um Smarties. Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn. Ist dir denn nichts aufgefallen?“
„Er hat doch immer mal wieder eine Phase, in der er sich zurückzieht. Wir haben alle unsere Dämonen und manchmal müssen wir ein bisschen stärker kämpfen, um sie zurückzudrängen.“
Besorgt ziehe ich Nick in meine Arme und streiche ihm beruhigend über den Rücken. „Komm schon, Delphin. Brich nicht in Panik aus. Wir schnappen uns jetzt unsere Rucksäcke und suchen nach Lino.
Ich bin sicher, dass wir ihn irgendwo finden und dann wird er uns anstrahlen und verrückte Sachen erzählen und wir können seinen Mund nur mit Smarties oder Küssen zum Schweigen bringen.“
„Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl im Bauch“, sagt er, hebt den Kopf und sieht mich an. Seine Augen sind hellblau und von einem dichten, dunklen Wimpernkranz umgeben, was ihnen ein besonders
eindrucksvolles Aussehen verleiht. Dazu die strohblonden, verfilzten Haare, die immer ein bisschen dreckig erschienen. Er wirkt wie ein Surferboy, nur die Gegend passt nicht.
Ich schiebe eine weitere Locke aus seinem Gesicht. Die Haare fühlen sich wie ein festes, raues Seil an. Beruhigend hauche ich einen Kuss auf seine Nase. Unglaublich, dass mir ausgerechnet an
einem Ort wie diesem Liebe begegnet. Eine besondere, intensive Liebe, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob sie echt ist. Ein Abbild dessen, wie wir leben und wo wir uns befinden. Es gibt keine
Zukunft, also nehmen wir das, was in diesem Moment greifbar ist und halten uns daran fest. Tag für Tag ... Woche für Woche ... Nick, Lino und ich.
Trotzdem fühlt es sich ganz besonders an. Ich glaube, ich habe mich noch niemals so intensiv mit jemandem verbunden gefühlt. Und dann gleich mit zwei Männern, die unterschiedlicher kaum sein
könnten. Beinahe, als hätte ich hier die fehlenden Puzzleteile gefunden. Ich dachte, es gäbe nur eins, aber in Wahrheit sind es zwei. Es ist verrückt, aber ich kann nichts dagegen tun, will es
auch überhaupt nicht.
„Worüber denkst du denn so angestrengt nach?“, erkundigt sich Nick. Er zieht die Augenbrauen zusammen und mustert mich aufmerksam.
„Keine Ahnung“, erwidere ich ausweichend. „Manchmal kann ich kaum glauben, wie sehr ich dich liebe. Dich und Lino. Ist es nicht erstaunlich, dass, ausgerechnet an einem Ort wie diesem, so ein
großes Gefühl auf uns wartet?“
„Was hast du gegen unsere wunderschöne Villa einzuwenden?“, fragt Nick grinsend und seufzt dann leise.
„Der Balkon ist ein besonderes Highlight. Wollen wir noch mal kurz nach draußen?“
Lachend schiebe ich ihn rückwärts zur Tür, während Nick sich dagegen sträubt und versucht, mich zurückzudrängen. Schließlich gebe ich nach und halte inne. Für einen Moment treffen sich unsere
Blicke. Ich kann die gleichen Gefühle in seinen Augen sehen. Auch wenn Nick es niemals ausspricht weiß ich, dass er uns liebt. Vermutlich glaubt er allerdings ebenso wenig wie ich daran, dass es
real ist oder in einer Welt außerhalb dieser heruntergekommenen Mauern überleben würde.
Sanft lege ich meine Lippen auf seinen Mund und verführe ihn zu einem Kuss. Nick seufzt leise, bevor er ihn voller Leidenschaft erwidert und seine Zunge zwischen meine Zähne schiebt. Er presst
sich an mich. Ich spüre seine wachsende Härte und vertiefe das Spiel unsere Zungen.
Nick schmeckt nach Kaffee und Lakritz. Eine seltsame Mischung, aber ich steh total drauf. Langsam lasse ich meine Hände über seinen Rücken gleiten, packe den Hintern und knete die festen Backen.
Keuchend wirft er den Kopf in den Nacken und lehnt sich gegen mich.
„Ich habe deinen süßen Delfin schon lange nicht mehr bewundert“, flüstere ich ihm rau ins Ohr und schiebe meine linke Hand in seine Shorts, die praktischerweise einen Gummizugbund hat.
„Wenn wir Lino gefunden haben und alles in Ordnung ist, dann kannst du dich so intensiv mit ihm beschäftigen, wie du nur willst. Er und mein Arsch stehen dir absolut zur Verfügung.“ Nicks Worte
verursachen eine Gänsehaut. Außerdem streifen seine Lippen meinen Hals und intensivieren das Gefühl zusätzlich. Ich schließe für einen Moment die Augen und genieße die wunderbare Nähe.
„Machen wir uns los“, sage ich schließlich, ziehe die Hand zurück und verpasse seinem Hintern einen kleinen Klaps. Wir stopfen so viel wie möglich in unsere zerfledderten Rucksäcke und setzen sie
auf die Schultern. Zweifelnd sehen wir uns an. Ich weiß, dass Nick sich die gleichen Gedanken macht wie ich: Hoffentlich haben wir nachher noch unseren Schlafplatz. Ich will das Zimmer mit dem
Balkon, in dem wir nun schon ein paar Wochen leben, nicht hergeben oder mit anderen teilen. Aus diesem Grund bleibt auch immer mindestens einer von uns da. Meistens bin ich es, der unser Zimmer
bewacht.
„Was ist, wenn Lino plötzlich auftaucht?“, frage ich und sehe ihn nachdenklich an. „Sollen wir ihm eine Nachricht hinterlassen?“
„Wollen wir uns doch lieber nacheinander auf die Suche machen? Ich habe allerdings ... ich weiß auch nicht. Irgendwie glaube ich, dass er diesmal nicht von allein zurückkommen wird. Ist es dir
wirklich nicht aufgefallen?“
Verschämt schüttle ich den Kopf. Zugegebenermaßen war ich die letzten Tage von dem neuen Buch, das ich aus der Büchertelefonzelle am Marktplatz mitgenommen habe, total vereinnahmt. Ein spannender
Thriller, der mich kaum loslässt, weil ich, obwohl ich bereits mehr als die Hälfte geschafft habe, noch immer nicht alle Zusammenhänge begreife. So etwas kommt äußerst selten vor. Meistens weiß
ich schon nach ein paar Seiten, wohin der Autor geht und auf welche falsche Spur er den Leser lenken will. Das ist jedoch wirklich gut gemacht.
„Ich war nicht ganz bei der Sache“, gebe ich schließlich zu. „Um ehrlich zu sein, ist es schon zwei Tage her, als ich zuletzt mit Lino gesprochen habe. Tut mir leid, ich ...“
„Du musst dich nicht rechtfertigen. Lass uns nachschauen, ob wir ihn irgendwo finden.“
Schweren Herzens verlassen wir gemeinsam das Zimmer und steigen vorsichtig die einsturzgefährdete Treppe nach unten. Obendrein ist es hier auch noch besonders düster, denn die Fenster sind mit
Brettern vernagelt. Als wir die Haustür öffnen, blendet die Sonne uns, sodass wir die Augen zusammenkneifen und in die andere Richtung schauen.
„Wohin?“, fragt Nick und sieht mich ratlos an.
„Am besten laufen wir zum Bahnhof und fragen dort nach, ob jemand Lino gesehen hat. Danach gehen wir in diese widerliche Kneipe, wo all die Stricher abhängen. Ich habe den Namen schon wieder
vergessen.“
„Ein Buch nach dem anderen verschlingen, aber ein Kopf wie ein Sieb haben“, schimpft er gespielt entsetzt. „Eigentlich ist es erstaunlich, dass wir dich nicht ständig suchen müssen, weil du dich
in der Stadt verläufst.“ Er verpasst mir eine Knopfnuss und ich reibe mir grimmig über die malträtierte Stelle.
„Deshalb bleibe ich auf dem Balkon. Abgesehen davon, schaffe ich es auch ohne Probleme bis zum Markt und zurück.“
„Und wenn du dich dorthin begibst, bist auch immer sehr erfolgreich beim Schnorren“, erwidert er grinsend.
Ich lächle verschmitzt und schlucke gleichzeitig schwer. Mir wird ziemlich heiß, aber zum Glück fällt es nicht auf, denn die Sonne brennt vom Himmel. Da machen sich ein paar plötzlich
ausbrechenden Schweißtropfen nicht wirklich bemerkbar. Die Wahrheit ist jedoch, dass ich niemals schnorre. Mich hinzustellen und fremde Leute anzubetteln, das kann ich einfach nicht. Schon allein
der Gedanke daran sorgt dafür, dass mir ganz flau im Magen wird. Verstohlen reibe ich über meinen Bauch. Lügen ... es gibt so viele verborgene Wahrheiten ...
Schweigend bringen wir den Weg bis zum Bahnhof hinter uns. Es ist nicht zu übersehen, wie nervös Nick ist. Allmählich färbt dieses Gefühl auch auf mich ab. Ich frage mich, ob wir Lino hier finden
und wenn ja, in welchem Zustand er sein wird. Nur mit Mühe kann ich Bilder von echten Horrorszenarien unterdrücken.
Zuerst begeben wir uns zum Güterbahnhof. Wir laufen zwischen den Gleisen entlang und rufen immer wieder Linos Namen. Nichts passiert. Der süße Kerl taucht nirgendwo auf. Dafür treffen wir ein
paar andere Leute, die wir nach Lino befragen. Obdachlose wie wir, Penner, in deren Adern vermutlich mehr Alkohol als Blut fließt. Natürlich wollen sie ohne eine entsprechende Gegenleistung keine
Auskunft geben. Nick zieht einen Fünf-Euro-Schein aus der Hosentasche. Das Geld verschwindet in einer schmutzigen Hand, aber von Lino wissen die Arschlöcher nichts. Bevor Nick ausflippt, ziehe
ich ihn weg.
„Verdammte Gammler“, knurrt er wütend.
„Wir finden Lino auch ohne Hilfe.“
„Ja, aber jetzt ist das Geld futsch und ich wollte davon was zu essen kaufen. Und Smarties, damit Lino ... Fuck!“ Er tritt aggressiv gegen eine Colabüchse, die auf dem Weg liegt und kickt sie
meterweit weg.
„25 Cent“, sage ich emotionslos und schaue ihn ernst an.
„Willst du hinterherlaufen?“, erkundigt er sich frustriert.
„Nee, geht schon.“
Erneut treffen sich unsere Blicke. Meine Mundwinkel fangen an zu zucken und auch Nick beginnt zu grinsen. Ich lege meinen Arm um seine Schultern und ziehe ihn näher an mich heran.
„Ich habe Geld für Smarties und um Döner oder chinesisches Essen zu kaufen. Wenn wir Lino gefunden haben, lassen wir es und gutgehen, okay?“
„Wann warst du schnorren?“, fragt Nick und sieht mich erstaunt an. Ich winde mich unter seinem Blick, denn ich kann ihm die Wahrheit nicht sagen. Allerdings bin ich auch nicht gut genug darin,
spontan zu lügen.
„Neulich“, antworte ich ausweichend, auch wenn ich keinen Zweifel daran habe, dass Nick mich durchschaut. Zum Glück sagt er jedoch nichts. Die Sorge um Lino ist offensichtlich größer als das
Bedürfnis zu erkunden, woher die Kohle stammt. Letztendlich spielt es auch gar keine Rolle, solange wir was in den Magen bekommen. Im Grunde brauchen wir nur wenig Geld. Ich wünschte, ich könnte
die beiden davon überzeugen, nicht ihren Körper zu verkaufen oder irgendwelche anderen gefährlichen Dinge zu machen. Leider müsste ich dann vermutlich auch mit der Wahrheit herausrücken und die
ist ... Ich schüttle unmerklich den Kopf, denn ich bin nicht bereit, mich der Realität zu stellen.
Wir betreten das Bahnhofsgebäude. Ein kühler Wind fegt uns um die Ohren. Ich habe keine Ahnung, weshalb es auf Bahnhöfen immer so zieht.
„Wo lang?“, frage ich und gucke mich suchend um. In der Halle reihen sich verschiedene Souvenir- und Imbissläden aneinander. Einen riesigen Supermarkt gibt es ebenfalls. Dort lungern oft
Obdachlose herum. Vielleicht befindet sich Lino unter ihnen.
Offenbar verstehen wir uns auch ohne zu reden, denn wir wenden uns beide gleichzeitig in Richtung Supermarkt. Tatsächlich hocken zwei Kerle, die mir entfernt bekannt vorkommen, auf einer
schäbigen Decke davor. Ein Hund liegt zwischen ihnen und eine Schale mit einer kaum nennenswerten Anzahl an Kleingeld befindet sich zu ihren Füßen.
„Nick, alter Kumpel“, grölt der eine schon von weitem. „Dich habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Setz dich zu uns.“
Tatsächlich beschleunigt Nick augenblicklich seine Schritte, während ich gefühlt langsamer werde. Auch wenn ich auf der Straße lebe gibt es Dinge, mit denen komme ich nicht zurecht. Vielleicht
liegt es daran, dass ich im Grunde sofort einen Ausweg hätte. Ich müsste es nur wollen und könnte ein komplett anderes Leben führen. Noch bin ich nicht so weit gesunken, dass mir alles egal ist.
Ich wollte nur eine Auszeit und hätte niemals damit gerechnet, dass sich mein Leben so schlagartig ändern würde. Unwohl bleibe ich vor den drei Männern stehen, denn Nick hat es sich inzwischen
auf der Decke bequem gemacht und streichelt den Hund.
„Könnt ihr euch an Lino erinnern?“, fragt er. „Der süße Kerl, kaum 1, 70 groß, dunkle, lockige Haare ...“
„Die kleine Schlampe“, meint der linke Typ und bringt mich zum Knurren.
„Hör auf so einen Scheiß zu erzählen.“
„Er streckt seinen Arsch doch für ein paar Süßigkeiten jedem entgegen.“
Diesmal kocht die Wut in mir hoch. Ich spüre Nicks Hand an meinem Bein, aber er beruhigt mich mit dem sanften Streicheln nicht wirklich.
„Also habt ihr ihn gesehen?“, fragt er die beiden noch einmal.
„Vielleicht hat er einen Macker gefunden.“
„Einen Märchenprinzen, der ihm das Blaue vom Himmel erzählt hat und ihn jetzt für eine Tafel Schokolade auf den Strich schickt.“
Die beiden lachen hämisch.
„Es sind Smarties und keine Schokolade“, brumme ich und reibe mir über die Augen.
„Was ist denn mit dem los?“, erkundigt sich einer der Idioten bei Nick. Erneut spüre ich seine Finger, die über mein Schienbein reiben.
„Ich brauche was zu essen“, sage ich leise und deute auf den Eingang des Discounters. „Bringe auch gleich Smarties mit.“
„Super Idee und vergiss das Bier für uns nicht. So eine Auskunft gibt es schließlich nicht umsonst.“
„Welche Auskunft denn?“, frage ich polternd und kann meine Wut kaum zügeln.
„Na, ihr wolltet doch wissen, wo die kleine Nutte ist. Wir haben sie zuletzt auf der Brücke gesehen.“
„Zuletzt? Wann genau?“
„Na, wir sind gerade mit Queeny draußen gewesen, damit sie nicht wieder auf die Decke pisst und da ist er auf dem Geländer herumgeturnt. Hat sich offenbar für eine Primaballerina gehalten.“ Die
beiden lachen dreckig. „Oder das falsche Zeug eingeworfen.“
„Fickt euch“, knurre ich und sehe Nick alarmiert an. Er springt ebenfalls auf die Füße. Panik liegt in seinem Blick, deshalb halte ich ihm am Arm fest.
„Wir holen zuerst die Smarties. Komm schon.“
Nick windet sich unter meinem Griff, denn er meidet für gewöhnlich Einkaufsläden. Für Lebensmittel sind Lino und ich zuständig. Ich weiß nicht, was sein Problem ist, denn natürlich redet er
ebenso wenig darüber, wie ich erzähle, woher das Geld stammt.
„Okay, du wartest auf mich.“
„Beeile dich bitte.“ Nervös sieht Nick mich an. Ich kann nicht anders, lege meine Hand in seinen Nacken und küsse ihn gierig. Sofort öffnen sich seine Lippen für mich und ein leises Wimmern
entweicht seiner Kehle, als unsere Zungen sich berühren. Wir ernten ein paar abfällige Kommentare, aber die bringen uns lediglich zum Grinsen.
„Ich bin gleich wieder da“, flüstere ich und beiße ihm kurz in die Unterlippe.
2. Blaue Smarties
Schon aus der Ferne erkenne ich Lino und mein Herz bleibt beinahe vor Schreck stehen. Er ist auf das Brückengeländer geklettert und tänzelt dort zwischen den Metallstreben hin und her. Unter ihm
befinden sich die Gleise des Güterbahnhofs. Verdammt weit unten ... wenn er abrutscht, dann ...
„Fuck“, rufe ich entsetzt und kann kaum atmen.
„Warum macht er das denn?“, flüstert Nick neben mir, mit vor Panik weit aufgerissenen Augen. Sie schimmern bereits feucht.
„Wir müssen ruhig bleiben“, ermahne ich ihn und irgendwie auch mich.
„Hol ihn da runter, Franco. Tu was, bevor er abstürzt.“
Mein Kopf ist vollkommen leer. Ich begreife nicht, weshalb Lino dort oben ist und ich fürchte mich vor den Konsequenzen, wenn wir ihn nicht heil wegbekommen.
Gleichzeitig beginnen wir zu rennen. Mit den Rucksäcken auf dem Rücken ist das nicht besonders einfach. Je näher wir kommen, umso langsamer werden wir. Bisher hat Lino uns offenbar noch nicht
entdeckt. Wenn wir ihn erschrecken, könnte er abrutschen.
„Lino“, rufe ich deshalb vorsichtig, während wir stehenbleiben.
„Wörterbuch?“, erwidert er und klingt erstaunt, aber auch belustigt. Er schwingt eine Flasche in seiner Hand, setzt sie an die Lippen und trinkt einen großen Schluck.
„Ist er besoffen?“, erkundigt sich Nick perplex.
„Sieht ganz so aus.“
„Warum bist du auf dem Geländer und betrinkst dich?“, frage ich laut und gehe einige Schritte nach vorn. Der Abstand ist immer noch so weit, dass wir nichts tun könnten, wenn Lino den Halt
verliert.
„Die Aussicht ist von hier oben so gut“, erwidert er kichernd. „So eine tolle Aussicht. Ihr solltet auch hochkommen.“
„Wie wäre es, wenn du zu uns nach unten kommst?“
Er beginnt zu lachen, trinkt und spuckt die Hälfte prustend wieder aus.
„Für mich gibt es nur noch einen Weg: abwärts.“ Lino deutet hinter sich. Ein Zug donnert unter uns entlang und bringt die Brücke zum Beben.
„Sei kein Idiot, Lino und komm da jetzt runter“, brüllt Nick. Seine Stimme ist voller Angst. Vorsichtig bewegen wir uns näher, aber diesmal bemerkt es Lino.
„Bleibt stehen oder ich springe sofort.“
„Smarties“, sage ich und versuche möglichst ruhig zu bleiben. „Was ist denn passiert? Du weißt doch, dass du immer zu uns kommen kannst. Bisher haben wir alles gemeinsam geregelt.“
„Diesmal ist es anders“, erwidert er und fängt laut zu schluchzen an. „Ganz anders. Ich habe alles kaputt gemacht und ihr werdet mich hassen. Hassen, hassen, hassen und dann sterbe ich sowieso.
Weshalb sollte ich also darauf warten, wenn ich es doch auch gleich erledigen kann?“ Er hebt einen Fuß vom Geländer. Am liebsten würde ich mich umdrehen und weglaufen. Ich kann nicht fassen, dass
ich mich in einer solchen Situation befinde. So vollkommen hilflos.
„Wir könnten dich niemals hassen, das weißt du.“
„Oh doch. Dafür schon. Ich ... ich habe es nicht gewusst ... dabei hast du gesagt, dass ich immer vorsichtig sein soll. Aber ich bin zu doof und habe es nicht kapiert. Jetzt ist es zu spät und
ich ... ich habe ...“ Er bricht mit seiner Rede, die überhaupt keinen Sinn ergibt, ab und setzt stattdessen die Flasche wieder an die Lippen.
„Wovon zum Teufel spricht er?“, fragt Nick mich leise.
„Ich habe keine Ahnung“, gebe ich zu. Verwirrt sehen wir uns an. Ich kann in seinen Augen die gleiche Beklommenheit erkennen.
„Ich habe Schiss, dass er springt. Tu irgendwas, bevor es zu spät ist.“
„Was denn?“, frage ich gereizt.
„Du bist doch das schlaue Wörterbuch. Also los ...“
Ich schließe für einen Moment die Augen und hoffe auf irgendeine spontane Eingebung. Allerdings bin ich nicht gerade dafür berühmt, ein Krisenmanager zu sein, denn dann wäre ich wohl kaum hier,
sondern hätte mich meinem Leben angemessen gestellt.
Bilder aus der Vergangenheit tauchen in meinem Kopf auf. Ich versuche sie zu verdrängen, aber sie sind so präsent, dass ich gar nichts dagegen machen kann. Der Streit mit meinen Eltern, der
Unfall und die damit einhergehende seltsame Chance, die ich ohne zu zögern ergriffen habe. Letztendlich hat mich all das hierher gebracht. Blinzelnd schaue ich Lino zu, der immer noch wild auf
dem Geländer herumturnt, diese verdammte Flasche in einer Hand und zusammenhangloses Zeug erzählend.
„Ich habe Smarties dabei“, rufe ich gedankenlos, reiße den Rucksack von meinen Schultern und hole den Dreierpack Schokolinsen hervor.
„Schau nur, Lino, willst du vielleicht ein paar davon haben?“
„Das ist dein genialer Plan?“, grummelt Nick neben mir und guckt mich an, als hätte ich ebenfalls den Verstand verloren. Ich zucke hilflos mit den Schultern, denn es ist natürlich kein Plan. Ich
weiß selbst nicht, was ich hier mache.
„Smarties“, ruft Lino übermütig und rutscht beinahe von der Brüstung.
„Großartig“, knurrt Nick.
Ich reiße die Folie ab, öffne eine der Rollen und schütte ein paar von den Schokoladendingern auf meine Hand.
„Du liebst sie doch, also komm da runter und hol sie dir.“
„Woher hast du nur immer das Geld, um sie zu kaufen?“, fragt Lino und starrt sehnsüchtig auf meine Hand.
„Und du, wie bist du an den Alk gekommen?“
„Geklaut“, sagt er freimütig.
„Damit ist die Frage doch beantwortet“, erwidere ich und grinse ihn schief an. Lino fängt laut zu lachen an und verliert erneut das Gleichgewicht.
„Fuck“, grummelt Nick neben mir.
„Du würdest niemals klauen“, ruft Lino übermütig und schüttelt energisch den Kopf. „Dafür bist du viel zu anständig. Und er auch. Ihr beide ... ihr seid so, so anständig und lieb und ... Ich
liebe euch wirklich, aber ich habe das alles nicht verdient. Ich bin so eine Schlampe, eine verdammte Hure, die jedem den Arsch hinhält und jetzt ... jetzt ist alles vorbei.“
Entsetzt starre ich Nick an. Er ist wie gelähmt. Tränen laufen über seine Wangen und ziehen dunkle Linien über sein Gesicht. Seine Unterlippe bebt. Wie gern würde ich ihn tröstend in den Arm
nehmen, aber das muss warten, bis wir Lino gerettet haben.
„Offenbar willst du die Dinger in meiner Hand nicht. Also, bevor sie schmelzen ...“ Ich halte sie Nick entgegen, der zuerst den Kopf schüttelt, dann aber doch zugreift.
„Ihr könnt die doch nicht einfach so essen. Man muss sie nach Farben sortieren. Blau ... die blauen sind die besten.“
„Ich habe davon keine Ahnung“, rufe ich und versuche genervt zu klingen. „Ich stopfe sie einfach in meinen Mund.“ Ich setze die Rolle direkt an meine Lippen.
„Das ist so falsch“, erwidert Lino entsetzt.
Vermutlich halten Nick und ich gleichzeitig die Luft an und dann passiert es tatsächlich. Lino hüpft vom Geländer, verliert dabei die Flasche, die in die Tiefe stürzt und auf den Gleisen
zerschellt. Ich bekomme eine Gänsehaut. Das hätte unser süßer Mann sein können. Er torkelt jedoch zu uns hinüber. Ehe er sich versieht, umarmen wir ihn. Es scheint, als würde ihm erst in diesem
Moment bewusst werden, was er getan hat, denn er reißt sich von uns los, dreht sich weg und kotzt auf den Boden.
„Verdammt“, murre ich, schüttle mich und schaue in die andere Richtung. Leider bin ich in dieser Hinsicht ziemlich empfindlich und würde am liebsten gleich mitmachen. Zumindest rumort es in
meinem Bauch und die Magensäure beginnt auch schon aufzusteigen. Ich atme tief durch und versuche, mich zu beruhigen.
„Wo sind die Smarties?“, fragt Lino leise und tippt mir auf die Schulter.
Ich schaue ihn an. Seine Augen sind blutunterlaufen. Das Gesicht ist dreckverschmiert und seine Nase läuft. Instinktiv hole ich eine Packung Taschentücher aus dem Rucksack. Nick nimmt sie mir aus
der Hand, öffnet sie und wischt mit einem davon über Linos Gesicht. Grummelnd und leise fluchend hält er still und schnauft sogar geräuschvoll, als Nick ihm das Taschentuch vor die Nase hält.
Nachlässig wirft er es anschließend auf den Boden. Ich sage nichts dazu, auch wenn ich dem inneren Drang, es wieder aufzuheben und nach einem Mülleimer zu suchen, nur mühsam widerstehen
kann.
„Hier“, sage ich schließlich und reiche Lino die Packung mit den Schokolinsen. Er setzt sich im Schneidersitz neben uns auf den Fußboden und kippt den Inhalt aus. Anschließend sortiert er die
Smarties nach Farben und stopft sich die Roten zuerst in den Mund. Schweigend beobachten wir ihn dabei. Ich lege einen Arm um Nicks Hüfte. Seufzend drängt er sich an mich und bettet den Kopf auf
meiner Schulter.
„Scheiße“, flüstert er leise und klingt so erleichtert, wie ich mich fühle. „Jetzt müssen wir ihn nur noch nach Hause bekommen.“
„Vielleicht legen wir eine Spur für ihn aus. Zum Schluss sind dann die blauen, die direkt in unsere Mitte führen.“
Nick hebt den Kopf und lächelt mich müde an. Ich streichle über seine Wange und verwische die Tränenspur auf seinem Gesicht.
„Ihr habt euch, also könnt ihr mich gehen lassen“, sagt Lino kauend. „Das ist auch besser, denn ich bin sowieso bald tot.“
„Was redest du nur für einen Unsinn?“, frage ich genervt, lasse Nick los und hocke mich vor Lino auf den Boden. Er zuckt lediglich mit den Schultern und isst die blauen Dragees. Entsetzt mustert
er die leere Rolle von allen Seiten.
„Komm nach Hause, dann kriegst du noch mehr“, biete ich schmunzelnd an. Er starrt mich darauf eine ganze Weile schweigend an, dann schüttelt er den Kopf. Frustriert stöhne ich und lasse mich nach
hinten auf meinen Arsch fallen. Ich ziehe die Beine an den Körper und umschlinge die Knie mit den Armen.
„Also gut. Erzähl endlich, was los ist.“
„Nicht hier“, sagt Lino und spielt nervös mit der leeren Schachtel.
„Unser Platz?“, fragt Nick leise.
„Muss das sein?“, erkundige ich mich. Ich bin alles andere als begeistert, mit dem schweren Rucksack quer durch die Stadt zu laufen. „Wir können doch auch einfach in unser Zimmer gehen, hoffen,
dass der Rest unserer Sachen noch da ist und es uns auf den Matratzen gemütlich machen.“
„Ich kann nicht mit euch mitkommen, bevor ich es euch nicht gesagt habe. Danach wollt ihr mich ganz bestimmt nicht mehr und ...“
„Wir wollen dich immer“, behaupte ich. „Du weißt doch: Lino, Nick und Franco gegen den Rest der Welt.“
„Wörterbuch, Delfin und Smarties“, vervollständigt Nick den Spruch mit unseren Spitznamen. Grinsend nicke ich, nur Lino schüttelt energisch den Kopf.
„Das ist vorbei“, sagt er so leise und schmerzerfüllt, dass es ganz eng in meiner Brust wird. Mit Schwung knie ich mich vor ihn und lege die Arme auf seine Schultern.
„Du machst uns echt Angst, Süßer. Rede mit uns.“
Auch Nick umarmt ihn. Ich rutsche ein Stück zur Seite, damit wir Platz haben. Mit einem traurigen Lächeln sehen wir uns an, beugen uns nach vorn und küssen Linos Wangen. Panisch reißt er sich von
uns los und wischt sich über das Gesicht.
„Das dürft ihr nicht. Nie wieder“, brüllt er und Tränen schießen ihm in die Augen. Er ist richtig verzweifelt. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was passiert ist, um dermaßen seltsam zu
reagieren.
„Also gut, gehen wir zu unserem Platz“, lenke ich ein, erhebe mich und schultere den Rucksack. Nick steht ebenfalls auf.
Schweigend machen wir uns auf den Weg. Unser Platz ist ein Teil der Friedhofsmauer. Zum ersten Mal haben wir dort gesessen, nachdem wir Nick gesucht haben. Er war zwei Tage verschwunden gewesen.
Damals sind Lino und ich kopflos durch die Gegend gerannt und haben uns das Schlimmste ausgemalt. Vor allem Lino kann total dramatisch werden ... Vermutlich so wie jetzt auch ... Er ist eine
echte Dramaqueen, was ihn jedoch nicht weniger liebenswert macht.
Jedenfalls haben wir Nick auf dem Friedhof aufgestöbert. Es war ein Zufall. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, ihn hier zu suchen, aber Lino hatte dieses Stück Zeitungspapier gefunden, auf
dem eine Todesanzeige stand.
Wir wussten nicht, ob es überhaupt einen Zusammenhang zwischen der gestorbenen Frau und Nick gab, aber wir hatten keine andere Spur und sie erwies sich als richtig. Gemeinsam haben wir uns auf
die Mauer gesetzt und Nick hat uns von seiner Oma erzählt. Es war das erste Mal, dass jemand von uns ein Fenster in die Vergangenheit geöffnet hat.
Wir saßen auch dort, als ich zum ersten Mal laut ausgesprochen habe, dass ich schwul bin. Für mich war das so eine große Sache, aber die beiden haben gelacht. Lino wäre beinahe rückwärts von der
Mauer gefallen. Zuerst war ich wütend, weil sie mich nicht ernst nahmen, aber dann erkannte ich, dass sie genau aus diesem Grund lachten. Es war ernst, aber auch lustig. Ich hatte schließlich
keine Schwierigkeiten, mit ihnen rumzumachen.
Wir befanden uns auf der Mauer als wir entschieden haben, dass wir drei zusammengehören, als wir Lino einen langen Vortrag über Drogen gehalten haben, weil er vorher total zugedröhnt war und die
Kontrolle verloren hatte.
Und jetzt? Ich weiß nicht, was uns erwartet, aber irgendwie habe ich den Eindruck, dass es diesmal anders sein wird. Dramatischer und eine echte Veränderung. Ich schlucke schwer und reibe mir
instinktiv über den Bauch. Am liebsten möchte ich nichts davon hören, aber was immer es ist, es kann ganz eindeutig nicht unausgesprochen zwischen uns bleiben.
„Du hast nicht zufällig eine Flasche Wasser gekauft?“, fragt Nick und lässt die Zunge wie ein durstiger Hund raushängen.
„Zufälligerweise“, erwidere ich schmunzelnd und drehe mich mit dem Rücken zu ihm, damit er das Getränk herausholen kann.
„Das sind meine Smarties“, ruft Lino, denn Nick hält eine der Rollen in der Hand, damit er an die Flasche kommt.
„Nur, wenn das, was du uns erzählen musst, wirklich so dramatisch ist, wie du tust“, erwidere ich ernst.
„Es ist viel, viel schlimmer“, murrt Lino und bringt mich dazu, schwer zu seufzen. Allmählich verliere ich die Geduld, aber zum Glück ist das Tor des Friedhofs bereits in Sicht. Wir gehen außen
daran vorbei. Aus dem Augenwinkel bemerke ich drei Männer, die den Friedhof verlassen. Ich weiß nicht warum, aber ich drehe mich um und schaue ihnen nach. Einer ist deutlich älter und wirkt
gediegen. Die anderen beiden ... hm, keine Ahnung, warum ich mir darüber Gedanken mache. Als hätten sie meinen Blick gespürt, dreht sich einer um. Für einen Moment sehen wir uns an, dann schaut
er wieder nach vorn und ich wende mich ebenfalls ab.
„Kanntest du sie?“, erkundigt sich Nick und mustert mich neugierig.
„Ich glaube nicht“, antworte ich leise.
„Irgendwann wirst du dich wieder an alles erinnern“, behauptet Lino und reibt behutsam über meinen Arm. Ich schließe für einen winzigen Moment die Augen. Verdammtes Lügenkonstrukt ... Es ist
furchtbar, dass die beiden mich für etwas bedauern, dass längst nur noch eine bescheuerte Ausrede ist, um mich nicht meinem Leben zu stellen.
Wir erreichen die Mauer und mein Herz beginnt heftiger zu schlagen. Ich habe keine Ahnung, was jetzt passiert, aber es macht mir Angst. Immerhin hatte Lino vor, von dieser verdammten Brücke zu
springen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn wir ihn nicht gefunden hätten. Verdammt, was, wenn Nick mich nicht überredet hätte, ihn zu suchen? Ich dachte wirklich, dass
er von allein auftaucht, aber das wäre er nicht. Vermutlich hätten wir nicht einmal erfahren, dass er tot ist. Mein Hals fühlt sich plötzlich wie zugeschnürt an und ein flaues Gefühl breitet sich
in meinem Bauch aus.
Lino setzt sich auf die von der Sonne gewärmten Steine und wir kesseln ihn rechts und links ein.
„Also“, sagt er leise und reibt sich über die Augen. „Scheiße, ich bin gar nicht mehr so besoffen.“
„Was hast du da überhaupt getrunken?“, erkundige ich mich neugierig.
„Wodka, aber ich habe die Flasche nicht geklaut. So ein Kerl hat sie mir gegeben. Vermutlich war es mehr Wasser als Alkohol.“
„Hatten wir nicht erst vor kurzem ein Gespräch darüber, nichts, was bereits offen oder benutzt ist, anzunehmen?“
„Ist doch alles egal“, murrt er und verdeckt das Gesicht mit den Händen.
„Offensichtlich waren zumindest keine Drogen drin.“
Nick sieht mich grimmig an. Er hat recht. Ein Vortrag darüber macht im Moment wirklich keinen Sinn. Beruhigend streichle ich über Linos Rücken. Jetzt erinnert er sich allerdings wieder daran,
dass wir ihn nicht anfassen sollen und dreht sich halb von mir weg.
„Mensch, Lino. Was ist denn nur los?“, frage ich genervt.
„Ich werde sterben“, sagt er leise und schluchzt. „Und vermutlich habe ich euch auch mit in den Tod gerissen. Ihr dürft mich aber nicht hassen.“ Er sieht mich an. Dicke Tränen kullern aus den
Augen. „Bitte, Franco, du darfst mich nicht hassen. Ich habe es nicht mit Absicht gemacht. Ich wusste doch nicht, dass ... ich wusste es einfach nicht.“
Neben einer unendlichen Sorge macht sich auch Wut in mir breit. Ich begreife noch immer nicht, wovon er spricht. Ein Blick auf Nick zeigt, dass es ihm ebenso ergeht.
„Und du, mit deinem niedlichen Delfin ... Ich werde ihn mir nie wieder angucken können ...“ Noch mehr Tränen und Schluchzer. „Du darfst mich auch nicht hassen.“ Nun bekommt er auch noch einen
Schluckauf. Wir bearbeiten das verheulte Gesicht erneut mit Taschentüchern, denn wir fühlen uns beide hilflos überfordert mit der Situation.
„Wir werden dich nicht hassen. Das könnten wir gar nicht.“
Ohne darüber nachzudenken, hole ich die zweite Rolle Smarties heraus, öffne sie und schütte einige in meine Hand. Ich halte sie Lino vor sein Gesicht. Jammernd greift er zu und stopft sie sich
einzeln in den Mund.
„Vor ein paar Tagen gab es dieses kostenlose Testangebot. Ihr wisst schon, die von der Aidshilfe kommen immer mal zum Straßenstrich, für Kondome und so ein Zeug. Und der Typ meinte, dass man sich
kostenlos auf Aids testen lassen kann. Die hatten Kekse und Tee, also habe ich es gemacht.“
„Und?“, fragt Nick eilig.
„Die Kekse waren echt lecker.“ Lino schmatzt und sieht mich bettelnd an. Ich gebe ihm noch ein paar Schokolinsen.
„Der Test“, ruft Nick ungeduldig.
„Ach so ... ja ... also, der ... der war positiv.“
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Jana (Donnerstag, 25 April 2019 07:57)
Hi Karo, schön mal wieder was von dir zu hören. Aber ich kenne das auch, dass man manchmal einfach nicht hinterher kommt Webseite oder so aktuell zu halten. Dafür kommen bestimmt auch wieder Phasen mit vielen Einträgen. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich deine Osteraktionen sei es nun eine Kurzgeschichte, ein Gewinnspiel oder sonstiges vermisst habe.
Aber dafür gibt es ja jetzt neuen Lesestoff. Und bald bestimmt auch noch mehr, zumindest hatte ich eigentlich mit was neuem aus der verliebt Reihe gerechnet.
Noch eine schöne Woche,
Jana