Heiligabend

Es ist ein emotionaler Augenblick. All die Menschen, die wichtig für uns sind, befinden sich im Schauraum unserer Manufaktur, um Kevins Whisky zu feiern.

Ich betrachte die erwartungsvollen Gesichter von Sabine und meinem Bruder. Daneben stehen Moni und Juan, der einen Karton Zigarren mitgebracht hat. Sogar Markus und Tobi sind hier. Wir haben uns schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Die Zeit vergeht so schnell, da ist es nicht leicht, immer im Kontakt zu bleiben. Aber für die besonderen Momente sind wir da und dann fühlt es sich an, als hätten wir uns erst gestern getroffen. 

Die Jungs vom Whiskyclub sind vermutlich mindestens so nervös wie wir. Sie werden ausführlich auf ihrem Blog von der Abfüllung berichten, auch wenn der Whisky nicht in den Verkauf geht. Die limitierten Flaschen sind längst weg. 

Ronny und Sebastian sind ebenfalls da. Sie nicken mir grinsend zu. Wer hätte gedacht, dass wir dermaßen gute Freunde werden? Ich verbringe wirklich gern Zeit mit den beiden und liebe die gemeinsamen Extremwanderungen mit Sebastian, bei denen sich unsere Männer vehement weigern, mitzukommen. 

Schon seltsam, dass es mir nichts ausmacht, wenn Ronny und Kevin sich verabreden, aber vor dem Treffen mit Bengt bin ich in Panik geraten. 

Kevins großer Augenblick ... Es erstaunt mich immer wieder, dass wir diesen Punkt erreicht haben. Ein gemeinsames Leben, das wohl weder Kevin noch ich jemals erwartet hätten. Ich dachte, ich könnte diesem unverschämten Bengel eine Lektion erteilen, aber am Ende hat er meine Welt auf den Kopf gestellt und dafür gesorgt, dass ich mir ein Leben ohne ihn gar nicht vorstellen kann. Dieses Gefühl hatte ich nie mit Glen. Ich war bestürzt, als er gegangen ist, aber wenn Kevin gehen würde ... Scheiße, mein Herz würde in tausend Teile zerspringen und sich nie wieder von dem Verlust erholen. Es ist beängstigend, wie eng verbunden wir miteinander sind.

«Ich sterbe gleich», raunt er mir zu und schaut mich erwartungsvoll an.

«Es gibt keinen Grund dermaßen nervös zu sein», behaupte ich und reibe ihm beruhigend über den Rücken. Wir wissen beide, dass es gelogen ist, denn natürlich ist es aufregend für ihn. 

Ich lasse meinen Blick erneut über die Menschen schweifen und grinse Kati an. Sie kichert und schüttelt den Kopf. Ich weiß, dass unser kleiner panischer Aussetzer vor ein paar Tagen bei ihr sicher ist. Ohne Kati wären wir vermutlich überhaupt nicht soweit gekommen. Kevin hat mich oft zum Zweifeln gebracht, aber Kati hat stets Worte gefunden, die mir Kraft gegeben haben. Sie hat erkannt, dass zwischen Kevin und mir ein wirklich großartiges Band besteht. 

«Ich bin unglaublich stolz auf dich», flüstere ich ihm zu.

«Wirklich?»

«Natürlich», erwidere ich ernst, ergreife seine Hand und ziehe ihn aus dem Raum nach hinten. Ich dränge ihn gegen die Wand und presse meine Lippen auf seine. Kevins Arme legen sich um meinen Hals. Er seufzt leise, drängt seine Zunge in meinen Mund und raubt mir den Verstand. Nach all der Zeit schafft er es immer noch, mich innerhalb von Sekunden scharf zu machen. Dabei war der Kuss meine Idee, aber sobald Kevin die Kontrolle übernimmt, bin ich verloren. 

Allerdings liebe ich es auch, wenn er sich fallenlässt und mir zeigt, wie sehr er mir vertraut. 

Ein lautes Räuspern sorgt dafür, dass wir hektisch auseinanderfahren.

«Sind wir zu spät?»

«Rik», ruft Kevin enthusiastisch, schiebt sich an mir vorbei und umarmt den Mann mit einem lauten Jubelgeschrei. Sein Partner und ich stehen ein bisschen verschreckt daneben. 

«Hey», sage ich und strecke Bengt die Hand entgegen. «Wir sind uns ja schon mal begegnet.»

«Die Umstände waren nicht gerade toll», erwidert er mit einem verlegenen Lächeln. Er ist ein wirklich attraktiver Mann und macht seinem Nachnamen alle Ehre.

«Du siehst auf jeden Fall sehr viel besser und gesünder aus», sage ich, denn damals war ich wirklich schrecklich besorgt um Bengt. 

«Es geht mir auch besser. Dank Rik und einiger Therapiestunden.»

«Das klingt großartig. Ich freue mich, dass ihr hergekommen seid.» Inzwischen stimmen die Worte, obwohl ich gegen das flaue Gefühl nichts machen kann.

«Ich bin mir noch nicht sicher wie es mir gefällt, hier zu sein», gibt er zu und grinst schüchtern. 

«Ihr werdet es lieben», antwortet Kevin euphorisch und zieht auch Bengt in eine kräftige Umarmung. «An dir ist ja viel mehr dran», stellt er glucksend fest. 

«Du bist auch nicht mehr so unnatürlich dünn», sagt Bengt und mustert ihn genau.

«Das liegt an der frischen Luft und dem guten Essen und natürlich an meinem Mann, der nicht zulässt, dass ich eine Mahlzeit auslasse.» Er drückt mir überschwänglich einen Kuss auf die Wange. 

Ich begrüße Rik, der mir jetzt viel sympathischer erscheint, als bei unserer kurzen Begegnung.

«Wir sollten zurück und endlich loslegen», sage ich schließlich und dränge die Männer in den Schauraum. «Bevor die Leute nervös werden und selbst vom Whisky kosten.»

«Seid ihr mit Ronny und Sebastian hergekommen?», erkundigt sich Kevin, der die beiden offenbar vorhin noch nicht entdeckt hat. 

«Nein, wir waren bis eben im Wald unterwegs.»

«Ich hatte schon Sorge, dass wir uns verlaufen haben», erklärt Bengt lachend.

«Wir hätten einen Suchtrupp zusammengestellt», erwidert Kevin. «Wir hätten euch schon gefunden.» Er grinst zuversichtlich.

Offenbar ist er plötzlich weniger nervös. Vielleicht hat er dieses Treffen tatsächlich gebraucht, um sich mit der Vergangenheit auszusöhnen.

«Wir stellen uns zu Ronny und Sebastian», sagt Rik und schiebt Bengt voran durch die Menge.

«Können wir flüchten?», erkundigt sich Kevin und greift nach meiner Hand. Seine Finger zittern. Ich drücke einen Kuss darauf. 

«Eigentlich wäre ich jetzt vermutlich noch viel aufgeregter als du. Ich hatten diesen großen Plan mit dem Heiratsantrag, aber du hast zum Glück schon ja gesagt.»

«Auch wenn die Umstände nicht gerade schön waren, war es die bessere Entscheidung. Ich finde es perfekt, dass wir diesen Moment ganz für uns hatten.»

«Und dieser Moment, der gehört ganz dir. Schau nur, wie weit du gekommen bist.» Ich spüre einen heftigen Druck in den Augen. Meine Sicht verschwimmt, sodass ich tief durchatme, um die Emotionen unter Kontrolle zu bekommen. 

Kevin lächelt mich glücklich an, dann geht er voran und begrüßt die Gäste. Es dauert nur wenige Sekunden, bis er alle in seinen Bann gezogen hat. 

Der Whisky schmeckt nach Kevin. Wild und rauchig, klar wie Bergwasser, mit einem Hauch Honig und dunkler Schokolade. 

Es ist ein perfekter Moment!

 

Ende