Zweiter Advent - Sonntag

3.

Ich versuche, den engen Mantel der Religion abzustreifen, aber manche Themen sind so tief in mir verwurzelt, dass ich mich nicht davon lossagen kann. Es gibt auch keinen Grund dafür, immerhin lebe ich inzwischen so frei, wie es mir gefällt. Ich folge meinen eigenen Regeln und habe gelernt, dass das eigene Glück und Zufriedenheit unschätzbar wertvoll sind.

Ich bin vor mehr als zehn Jahren aus der Glaubensgemeinschaft ausgetreten, habe schon davor viele Lehren und Regeln hinterfragt und mich im Grunde seit der Pubertät nicht mehr dazugehörig gefühlt. Meine Eltern hatten kein Verständnis für mich. Für sie gibt es nur einen Weg und so musste ich irgendwann die Konsequenzen ziehen. Es war nicht leicht, plötzlich ohne den Halt der Gemeinschaft ein eigenständiges Leben aufzubauen. Ich vermisse meine Eltern und Freunde, aber ich weiß, dass es kein Zurück für mich gibt ... schon gar nicht, seitdem ich mich geoutet habe. Vielleicht ist es ein Glück, dass wir uns nie so ein inniges Verhältnis hatten, wie ich es hier bei einigen Familien mitbekomme.

«Was machst du heute noch?», fragt mich Johannes und durchkreuzt meine Gedanken. 

«Ich habe noch ein paar Sachen hier zu erledigen und dann fahre ich nach Hause und werde mir einen guten Film ansehen.»

«Langweilig!», nörgelt Mark grinsend. Ich verdrehe die Augen, denn Mark ist unser Partymensch. Er ist ständig unterwegs und weiß, wo die besten Clubs sind. Er ist der jüngste im Team und stets darauf bedacht, mir mehr von der Welt zu zeigen. Angeblich habe ich viel zu viel verpasst. Er ist so frei und ungezwungen in seiner Sexualität, dass er mich als Heteromann in Gaybars schleppt und mir irgendwelche Saunaclubs empfiehlt. 

«Was machst du denn?», frage ich neugierig. Auch wenn ich selbst noch nie Weihnachten gefeiert habe, finde ich es spannend, wie andere diese, angeblich so bedeutsame Familienzeit verbringen.

«Zuerst staube ich bei meinen Eltern Geschenke ab und dann gehe ich feiern. Die Weihnachtspartys sind immer die besten. Die Bräute sind heiß. Ich gehe ganz bestimmt nicht allein ins Bett, um die Geburt Jesu angemessen zu feiern.»

 Ich verziehe entsetzt das Gesicht, denn seine Worte klingen schrecklich falsch in meinen Ohren.

 

4.

«Ich finde ein gemütliches Weihnachten mit der Familie wunderbar», erklärt Holger. Er ist mit seinen 43 Jahren der Älteste im Team. Mark und er reiben sich immer wieder aneinander. Sie sind so gegensätzlich, dass ich am Anfang Bauchschmerzen hatte, ob darunter nicht das Betriebsklima leidet. Inzwischen wissen wir alle, dass die beiden das kreativste Gespann sind, gerade bei schwierigen Problemen oder effektvollen Aufbauten. Sie haben bisher immer eine innovative Lösung gefunden, selbst wenn wir anderen daran schon längst verzweifelt sind. 

«Du bist eben durch und durch ein Spießer, Holger», behauptet Mark auch sofort.

«Und du ein promisker Nerd», erwidert er und trinkt einen Schluck aus seinem Glas.

«Das klingt so schräg, dass es schon wieder richtig gut ist. Muss ich mir unbedingt merken: Promisker Nerd!» Mark lacht und stößt sein Glas gegen das von Holger. Die beiden grinsen sich zufrieden an.

«Okay», sage ich nach zwei Stunden. «Dann will ich euren Plänen nicht länger im Weg stehen und wünsche euch viel Spaß bei dem, was ihr in den nächsten Tagen auch immer vorhaben werdet.»

«Willst du wirklich noch arbeiten?», fragt Johannes, als ich meinen PC hochfahre.

«Ja, es gibt noch einige Dinge, die ich erledigen muss, und heute ist so gut, wie jeder andere Tag dafür.»

«Du könntest mit zu mir kommen. Hanna und die Kinder würden sich bestimmt freuen.»

Ich lehne dankend ab. Johannes nickt, auch wenn ich weiß, dass er meine Einstellung nicht versteht. Das können die wenigsten, aber ich sehe nicht ein, warum ich mich diesbezüglich rechtfertigen sollte. Sie wissen in groben Zügen über mein Leben als Zeuge Jehovas Bescheid. Über Feiertage haben wir schon öfter diskutiert, ebenso über Geburtstage. Wobei ich bei Letzterem inzwischen zu Kompromissen bereit bin. Mit 30 habe ich zum ersten Mal meinen eigenen Geburtstag gefeiert. Eine große Überraschungsparty, die Johannes organisiert hat. Es war ein merkwürdiges Gefühl, im Zentrum für eine Sache zu stehen, für die man keinerlei Leistung erbracht hat. Den Zeitpunkt der Geburt zu feiern ist irgendwie absurd, aber es war eine lustige Party.