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Zweiter Advent - Samstag

Ich begrüße euch zum zweiten Adventskalenderwochenende.

In der vergangenen Woche hatte ich meine, schon beinahe traditionelle Weihnachtslesung in meiner Heimatstadt. Es war gemütlich und weihnachtlich mit lieben Freunden und meinen VIP-Gästen, nämlich meine Mutter, meine Tante und ihre Freundinnen. Sie sind diejenigen, die mindestens zwei Lesungen im Jahr von mir "erwarten",  ihren Stammtisch haben und mir immer Blumen mitbringen. Und in diesem Jahr hat sogar meine Tante die kleine Weihnachtsüberraschung gewonnen. Da war die Freude am Tisch groß. Sie erhöhen den Durchschnitt meiner Zielgruppe auf 70+, aber ich freue mich in jedem Jahr auf ihren Besuch und auf die Lesungen. 


2. 

Unschlüssig schaue ich mich in meiner Wohnung um. Es herrscht ein furchtbares Chaos, das ich seit Tagen beseitigen will, aber nicht im Stande bin. Der Anruf meiner Mutter kam leider viel weniger ungelegen, als ich zugeben möchte. Genau genommen ... Seit drei Wochen dümple ich in einer Art luftleeren Raum herum. Ich habe meinen Job gekündigt, weil ich es einfach nicht mehr ausgehalten habe. Mein Exchef war ein Arschloch und Ausbeuter, der obendrein die Kollegen gegeneinander ausgespielt hat. Ich bin gut in meinem Job, habe kein Problem mit Überstunden, aber ich habe mich in den vergangenen Monaten nur noch krank und müde gefühlt. Schließlich meinte mein Arzt, dass ich typische Anzeichen für ein Burnout hätte. Zeit, die Reißleine zu ziehen. Es fiel mir weniger schwer, als gedacht, abgesehen davon, dass ich zu Hause viel Zeit zum Nachdenken hatte. Viel Zeit für Netflix, für Extremcouching und um meine Wohnung verwahrlosen zu lassen. 

Sobald ich über meine Zukunft nachdenke, ist mein Kopf wie leergefegt. Ich habe keinen Plan und ich weiß auch gar nicht, wo ich anfangen soll. Der Job hat nicht nur meine Energie gefressen, sondern mich auch von den wenigen Freunden entfernt. Dabei war ich so motiviert und voller Selbstvertrauen, als ich nach Hamburg gezogen bin. Ich hatte meinen Traumjob in der Tasche, eine Wohnung und war mir sicher, dass ich die Stadt in Windeseile erobern würde. Drei Jahre später stehe ich vor einem Scherbenhaufen und bin ein bisschen ratlos. Ich habe in den vergangenen Tagen oft daran gedacht, wieder nach Hause zurückzugehen, aber ich habe den Gedanken immer sofort verdrängt. Aber nun hat mir meine Mutter einen kleinen Ausweg geboten. Sie braucht meine Hilfe und ich ... ich werde die Zeit nutzen, um über meine Situation nachzudenken. Anstatt erst zu den Weihnachtsfeiertagen, kehre ich eben schon drei Wochen früher nach Hause. Und obwohl sie nur von diesem Wochenende gesprochen hat, packe ich Sachen ein, die für den Rest des Jahres reichen. Den Weihnachtsstern, den ich mir gestern in einem Anflug von weihnachtlichen Gefühlen gekauft habe, nehme ich einfach mit. 

»Driving home for Christmas«, summe ich, während ich meine Reisetasche packe.

 

3. 

Das Gesicht meiner Mutter, als ich mit der schweren Tasche und dem Weihnachtsstern aus dem Zug steige, ist unbezahlbar. 

»Bleibst du länger«, fragt sie, anstatt einer Begrüßung.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, erwidere ich mit einem schiefen Grinsen, das hoffentlich über meine Nervosität hinwegtäuscht.

»Was? Natürlich freue ich mich. Gott, ich bin unglaublich froh, dass du Zeit hast. Ich bin wirklich verzweifelt.«

»Wie viele Leute hast du denn um Hilfe gebeten, bevor du mich gefragt hast?«, erkundige ich mich mit einem leicht beleidigten Tonfall und ziehe sogar die Augenbrauen etwas zusammen für den richtigen Effekt.

»Es waren nicht soo viele«, brummelt Mama und streicht mit einer Hand über meine Wange. »Ich weiß doch, dass du keine Zeit hast. Der Job frisst dich auf und deshalb wollte ich dir nicht nur zusätzlichen Stress bereiten. Du siehst blass aus. Hast du schon wieder abgenommen? Und überhaupt, was ist in der Tasche?«

Hinter uns setzt sich der Zug rumpelnd in Bewegung. Menschen schieben sich an uns vorbei. Der Bahnsteig ist nicht groß, kein Vergleich zu Hamburg, aber genau das war auch der Grund, weshalb ich vor drei Jahren hier stand. Mit meiner großen Reisetasche und voller Hoffnung auf die Zukunft. Ich wollte mehr als das, was mir meine Heimatstadt zu bieten hatte. Ich wollte raus aus der Enge und hinein in ein Leben, das ich allein gestalten konnte. Nur leider war ich nicht gut darin, meine Träume zu verwirklichen.

Erst nachdem ich den Job gekündigt habe, ist mir aufgefallen, wie leer mein Leben ist und wie einsam ich bin. Nur einmal, ganz kurz hatte ich dieses Glücksgefühl und dachte, ich hätte meine große Liebe gefunden. Es war kaum mehr als ein Strohfeuer 

Ich schüttle die Gedanken ab und bemerke, wie meine Mama mich mit diesem durchdringenden und wissenden Blick anstarrt, den nur Mütter beherrschen.

»Bleibst du länger?«, fragt sie erneut.

»Können wir vielleicht erst einmal den Bahnhof verlassen?« Ich fürchte mich vor meiner eigenen Antwort und gehe in Richtung Treppe, um zur Unterführung zu gelangen. »Stehst du vorn oder hinten auf dem Parkplatz?«

»Hinten. Vorn war alles voll.« Sie folgt mir schweigend.

 

4. 

Ihr Schweigen hält, bis wir die Reisetasche im Kofferraum verstaut und eingestiegen sind. Noch bevor sie den Motor einschaltet, dreht sie sich halb zu mir und schaut mich abwartend an. 

»Also, wie lautet der Plan?«

»Backen?«

»Und der andere?«

»Was meinst du?« Ich grinse und versuche, noch ein bisschen Zeit zu schinden.

»Ich rede von dem Gepäck, das für ein Wochenende eindeutig zu viel ist.«

»Vielleicht liegt es daran, dass ich ... also, ich würde ... wenn es für euch okay ist ...« Die Worte hängen in meinem Hals fest. Ich befürchte, daran zu ersticken.

»Rick, was ist los? Hast du vor, länger zu bleiben? Kommst du für immer nach Hause? Was zur Hölle ist in Hamburg geschehen?«

Ich starre aus der Frontscheibe auf den nahezu leeren Parkplatz und weiß nicht, wie ich erklären soll, dass ich keine Antworten auf ihre Fragen habe.

»Okay«, sagt sie, nachdem das Schweigen mir die Luft zum Atmen raubt. »Wir fahren jetzt erst mal nach Hause. Ich koche uns einen Weihnachtskaffee und du kommst in Ruhe an. Aber bitte sag mir, dass grundsätzlich alles in Ordnung ist. Keine schlimmen Krankheiten oder ... hast du dich mit HIV angesteckt?«

»Mama, ich bin nicht krank und habe auch kein HIV. Bin nur erschöpft.«

»Das sehe ich und glaub mir, dein Vater und ich werden alles tun, um dich wieder aufzupäppeln.«

»Darauf habe ich gehofft«, flüstere ich und fürchte mich zugleich davor. 

Genau das war es, weshalb ich von meinen Eltern wegwollte. Ihre Liebe und Fürsorge waren zu groß. Ich wollte auf eigenen Beinen stehen und für mein Leben selbst Verantwortung tragen. Bisher war ich nicht sehr erfolgreich und habe mich eher kaputt als glücklich gemacht. 

»Oh, da ist ja Ole!« Meine Mutter hupt und springt nahezu zeitgleich aus dem Auto. Sie läuft auf einen weißen Kastenwagen zu, der gerade auf dem Parkplatz ankommt. Ein Mann in blauer Arbeitsmontur steigt aus und hebt grüßend die Hand. Sie unterhalten sich, aber ich verstehe natürlich kein Wort. Dann zeigt sie auf mich und winkt. Ich hebe unwillkürlich die Hand. Oles Blick trifft mich und für einen Moment gerät meine Welt aus den Fugen.

 

5. 

»Das war Ole«, erklärt Mama, als sie zurück ins Auto steigt. »Wie gut, dass ich ihn getroffen habe. Er kümmert sich um die Elektrik in dem Weihnachtshäuschen, damit wir alle Licht auf dem Burghof haben.«

»Okay«, antworte ich tonlos, denn ich bin noch ein bisschen verwirrt von diesem Blick, der sich trotz der Entfernung erstaunlich intensiv angefühlt hat.

»Außerdem spielt er bei der Weihnachtsfeier der Kita den Weihnachtsmann.«

»Dann ist er wohl ein richtiger Weihnachtsfan?«, frage ich schmunzelnd.

»Auf jeden Fall nicht so ein Grinch wie du.«

»Hey, ich bin kein Grinch. Ich habe mir einen Weihnachtsstern gekauft«, triumphiere ich und bringe meine Mutter zum Lachen. 

Sie startet den Motor und rollte langsam vom Parkplatz. Ein seltsames Gefühl überkommt mich. Ich weiß, dass ich für mehr als einen kurzen Besuch zurückgekommen bin. Der Gedanke ist groß und beängstigend. 

Es herrscht kaum Verkehr auf den Straßen und auch nur wenige Menschen sind zu Fuß unterwegs. Die Stadt wirkt grau und wenig festlich.

»Was ist hier los?«, frage ich und runzle irritiert die Stirn. »Sonst war doch alles längst geschmückt.«

»Die Kassen sind leer. Der Stadtrat hat die Weihnachtsdekoration auf ein Minimum reduziert. Es wird nur zur Burgweihnacht festlich, ansonsten bleibt es im Dezember dunkel.«

»Und die Läden? Wieso sind die Schaufenster nicht geschmückt.«

Mama seufzt schwer und zuckt mit den Schultern. »Die Geschäftsinhaber fühlen sich vom Stadtrat alleingelassen und boykottieren quasi die Adventszeit. Es ist zum Heulen.«

»Sieht echt ein bisschen gruselig aus«, gebe ich zu, denn solange ich mich erinnern kann, war die Stadt im Dezember ein einziges Lichtermeer.

»Haben die Stadtwerke die Beleuchtung nicht immer gesponsert, zumindest zum Teil?«

»Ja, aber das war bevor die Frau des Geschäftsführers eine Affäre mit dem gerade mal 18-jährigen Sohn des Bürgermeisters angefangen hat.«

»Wow, was für ein Gossip«, rufe ich feixend. »Erzähl mir mehr davon.«

»Es ist nicht lustig. Herausgekommen ist das alles, nachdem Ole für den Bürgermeister die Überwachungskamera installiert hat. Jemand hat die Bilder ins Internet gestellt. Was für ein Skandal!«

»War das etwa auch dieser Ole?«

»Nein, aber manche im Ort geben ihm eine Teilschuld an dem Dilemma. Totaler Schwachsinn, aber du weißt ja wie die Leute sind.«


Die Überraschungspost gewonnen haben:

Piccolo und Karin Bill

Herzlichen Glückwunsch!

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Kommentare: 5
  • #1

    Karin Bill (Samstag, 07 Dezember 2024 10:24)

    Ohhhh wie schön! Danke �
    Ich liebe Überraschungspost.
    Und wie letztes Jahr, lese ich doppelt.
    Das find ich so schön. Täglich die kleinen Häppchen und am Ende der Woche alles nochmal in einem Rutsch.
    Dankeschön von Herzen!
    Habt alle einen schönen 2. Advent

  • #2

    Susan (Samstag, 07 Dezember 2024 11:04)

    Ich wünsch allen ein schönes 2. Adventswochenende ���.
    Ich bin dieses Jahr 3 fach unterwegs. FB, Insta und hier im Blog. Ich find es am Wochenende hier im Blog am besten. Ich hab hier das bessere Leseerlebnis.
    LG Susan

  • #3

    Manuela F. (Samstag, 07 Dezember 2024 17:36)

    Ich wünsch dir ein schönes 2. Adventswochenende.
    Danke für die neuen Kapitel, auf die nächsten freue ich mich
    schon.
    LG Manu

  • #4

    Piccolo (Samstag, 07 Dezember 2024 18:07)

    Guten Abend liebe Karo,

    nochmals vielen lieben herzlichen Dank für die Überraschungspost. Ich freue mich riesig.

    Oha, da hatte sich Rick in der großen Stadt etwas übernommen bzw. den falschen Arbeitgeber. Aber vielleicht sollte es so sein, dass er zurückkehrt und in der Heimat einen Neuanfang und sein Glück findet. So unselbstständig ist er doch gar nicht. Ich finde, er macht sich schlechter als er ist.

    Bis morgen!

    LG Piccolo

  • #5

    Anja Hoffmann (Montag, 09 Dezember 2024 21:51)

    Hallo alle zusammen.
    Ich hoffe, ihr hattet alle ein schönes Adventswochenende.
    Fernen allen Gewinnern herzlichen Glückwunsch.

    LG Anja